Der Trommelreiter

Eine sibirische Mythe über die Entstehung der Schamanentrommel

Heutzutage reisen (oder auch reiten) Schamanen meist zum Klang der einseitig bespannten Trommel. Daher kommt auch die Bezeichnung „Trommelreiter“ für einen Schamanen. Dies war jedoch nicht immer so. Diese sibirische Mythe beschreibt, wie es dazu kam:

 

Vor langer Zeit, so erzählt es diese sibirische Mythe, lebte ein Schamane in einem kleinen Dorf weit draußen in der in der Tundra. Seine Heilkunst war weit über die Grenzen seines Stammes bekannt und so nahmen hilfesuchende Menschen lange Reisen auf sich, um schamanische Heilung durch ihn erfahren zu dürfen und gesund zu werden.

 

Keine Erkrankung der Seele blieb von ihm unerkannt, kein Herz ungeheilt und kein Körper musste sich länger einer Krankheit beugen.

 Mit den Jahren wuchs seine Erfahrung und sein Ruf als mächtiger Meisterschamane erreichte einen so großen Glanz, dass sogar der Schöpfer selbst darauf aufmerksam wurde.

 

'Wenn das so weiter geht, wird der Schamane aus der Tundra sich bald selbst für allmächtig halten', dachte er. So beschloss der Schöpfer einzugreifen und den Schamanen zu prüfen und ggf. ihm eine Lektion zu erteilen. Ein Rentierzüchter hatte für eine Boshaftigkeit eine Strafe verdient und so beschloss der Allmächtige, ihm einen Teil seiner Seele zu nehmen. Er versteckte ihn in einer Flasche, verschloss diese mit einem Korken und bewahrte sie auf seinem Schoß auf. Er schmunzelte bei dem Gedanken, der Rentierzüchter würde den Meisterschamanen aufsuchen und dieser würde vergeblich den verlorenen Seelenanteil suchen.

 

Nachdem der Rentierzüchter seinen Seelenanteil verloren hatte, verlor dieser seine Lebensfreude und wurde kurz darauf sehr krank. Geschwächt und leidend wähnte er sich dem Tode nahe. Seine Familie hatte von dem Meisterschamanen gehört und so machte man sich auf die Reise.

 

Beim Schamanen angekommen machte dieser sich sogleich an die Arbeit. Er nahm seine Trommel und begann eine schamanische Reise, um den verlorenen Anteil der Seele des Mannes zu suchen. Er flog in die Anderswelten und besuchte auf seiner Reise das Reich der Toten, schaute in die verborgensten Winkel der geheimen Regionen. Wo er auch nachsah, den Seelenanteil des Rentierzüchters konnte er nirgends finden. Auch seine Hilfsgeister wussten keinen Rat mehr.

 

Schließlich sagte eine seiner weisesten Hilfskräfte, welche ihm schon oft  verzwickten Situationen geholfen hatte: „Nun warst Du überall, nur beim Schöpfer selbst hast du noch nicht gesucht“. So begann der Schamane erneut eine schamanische Reise, um auch dort nachzuschauen.

 

Er bestieg seine beidseitig bespannte Schamanentrommel und erhob sich in die Lüfte. Weit hinauf ging es und er flog bis über die Wolken. Als er schließlich am Firmament das göttliche Reich betrat, näherte er sich vorsichtig dem hellsten Licht. Um nicht erkannt zu werden, machte sich der Schamane unsichtbar. Und da saß der Schöpfer und hielt auf seinem Schoß eine Flasche in seinen Händen. Darin erkannte der Schamane den gesuchten Seelenanteil des Rentierzüchters. Aber wie wollte er ihn herausholen? Die Hand des Schöpfers ruhte auf dem Korken der Flasche...

 

Der Schamane überlegte wie er vorgehen sollte. Er hatte gelobt, der Heilung zu dienen. Dies galt auch in diesem Fall und doch wusste er nicht, was er von dieser Situation halten sollte. Vielleicht war es eine Prüfung. Viele hatte er schon bestanden und auch diese Aufgabe wollte er lösen. Schließlich ersann er eine List. Er verwandelte sich in eine Mücke und stach den Schöpfer. Sogleich nahm dieser die Hand von der Flasche um die blasphemische Mücke zu erschlagen. Schnell flog der Schamane zur Flasche, zog den Korken heraus und befreite den Seelenanteil. Er schwang sich auf seine beidseitig bespannte Trommel und flog schnell zurück zur Erde.

 

Der Schöpfer hatte vergeblich versucht, die freche Mücke zu erschlagen, und als er wieder nach der Flasche griff, fand er sie geöffnet vor. Der Seelenanteil des Rentierzüchters war weg. Er blickte sich um und sah gerade noch den Schamanen am Horizont. Wütend über seine Frechheit nahm der Schöpfer einen Blitz und jagte ihn dem Schamanen hinterher. Der Schamane hörte den Blitz herandonnern und versuchte, ihm auszuweichen. Es half nichts: Der Blitz schlug in seine Trommel ein und teilte sie in zwei Hälften. Seit dieser Zeit führen Schamanen die schamanische Reise mit einer Trommel, die nur auf einer Seite bespannt ist...

 

Einige Monde später begab sich der Schamane in die Tundra, um für sich und seinen Stamm um eine Vision zu bitten. Er nutzte die Zeit der Einsamkeit, um sich und seine Heilarbeit für den Rentierzüchter im Licht der Schöpfung zu betrachten. Er wollte aus ihr lernen und die Tat des Schöpfers verstehen. So saß er schließlich an seinem vertrauten heiligen Platz und besah die beiden Hälften seiner Trommel. Hatte er richtig gehandelt? Er wusste, alles hatte seinen Sinn, doch was für einen Sinn hatte diese Tat des Schöpfers?

 

Die Tage vergingen, doch Antworten wollten nicht kommen. So suchte er sie in der Nacht. Er blieb wach und als die Dunkelheit sich wie ein Mantel um ihn senkte, begann er die alten Lieder zu singen, die ihm seine Großmutter gelehrt hatte. In diesen Liedern steckte Medizin und er hoffte, den Schöpfer zu erreichen und von ihm eine Antwort zu erhalten.

 

Im Dunkeln der mondlosen Nacht nahm er auf einmal ein rötliches Leuchten war, nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Er murmelte eine Begrüßungsformel, die für alle Wesen galt und bekundete so seinen Respekt. Die Erscheinung veränderte sich nun und er konnte eine Gestalt erkennen. Es war ein kleines Wesen in einem weiß-roten Gewand und mit einem etwas merkwürdigen, zu groß erscheinenden Hut gekleidet.

Der Schamane erhielt einen Verbündeten und Lehrer für den Umgang mit dem zweiten Teil der Trommel. Er lernte mit diesem zweiten Teil der Trommel die Menschen zu bespielen und zu betanzen. Sie mit dem Klang der Trommel direkt zu heilen. Mit der anderen Hälfte der Trommel würde er weiterhin schamanische Reisen unternehmen und ihm wurde das Geschenk, welches aus der Tat des Schöpfers resultierte, bewusst.